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Postfossiler Extraktivismus?


Sozial-ökologische Konsequenzen von Dekarbonisierungsstrategien

Cover des Buches
  • Buch
  • Tittor, Anne
  • 2025, Transcript. - 307 Seiten

Die Bekämpfung bzw. Eindämmung des Klimawandels wird weitgehend als drängende Herausforderung anerkannt und unterschiedlich stark politisch verfolgt. Wenngleich die sozial-ökologische Transformation ansatzweise bereits begonnen wurde, reichen die bislang gesetzten Schritte nicht aus, um den Klimawandel realistisch zu begrenzen. Ein wesentlicher Baustein dieser Bemühungen ist die Dekarbonisierung, also die Abkehr von fossilen (Brenn-)Stoffen und der damit einhergehende Umbau der Wirtschaftsweise. Debatten in diesem Feld drehen sich um kritische Rohstoffe und seltene Erden, die Transformation des Energiesektors, technologische Innovationen als auch um Klimaneutralität durch Treibhausgasbilanzierung und Emissionszertifikate. Anne Tittor nimmt im vorliegenden Band hingegen eine globale Perspektive ein und adressiert die negativen Auswirkungen der Dekarbonisierungsstrategien auf den Globalen Süden – etwa Landnahme, infrastrukturelle Großprojekte, Umweltverschmutzung und die Aushöhlung staatlicher Souveränität durch Konzerne. Ungleiche Arbeitsteilung und die Inwertsetzung peripherer Räume stellen kennzeichnende Merkmale dieser Entwicklungen dar und lassen Parallelen zu kolonialer Ausbeutung erkennen. Die Autorin knüpft an Diskurse der Extraktivismus-Forschung an und schlägt zum konzeptionellen Verständnis den Begriff des „post-fossilen Extraktivismus“ vor. Dieser klinge zwar zunächst widersprüchlich, setze die Dekarbonisierung doch stark auf erneuerbare und nachwachsende Rohstoffe. Tittor argumentiert jedoch, dass die Ausweitung des Extraktivismusbegriffs auf erneuerbare Ressourcen und Infrastrukturprojekte (etwa Wasserstoffanlagen oder Windparks) sinnvoll sei, da auch diese extraktiven Logiken folgen würden. Das Attribut „post-fossil“ verweise wiederum auf die aktuelle Übergangsphase, in der der Abschied von fossilen Energieträgern wie in einem Interregnum noch nicht vollzogen und die neue Ausgestaltung offen sei: „Die gegenwärtige Formation als eine postfossile zu beschreiben, legt den Fokus darauf, dass umkämpft ist, wie tiefgreifend und wie schnell die Dekarbonisierung erfolgen wird und wie ernsthaft versucht wird, Klimaneutralität zu erreichen. Das Gros der politischen Maßnahmen fokussiert im Sinne der Förderung eines grünen Kapitalismus nur auf einen Austausch der Ausgangs- und Antriebsstoffe, damit aktuelle Produktionsstrukturen, Alltagspraxen und Konsumgewohnheiten fortgesetzt werden können.“  Tittors Forschung ist geprägt vom Blick auf Lateinamerika und den Beziehungen zu Europa, die behandelten Beispiele sind u.a. die Agrartreibstoffproduktion in Argentinien sowie Tendenzen in der Wasserstoffökonomie (Argentinien und Chile als wahrscheinliche Rohstoffproduzenten). „Postfossiler Extraktivismus“ lässt sich somit im Feld der Politischen Ökologie verorten und bereichert Diskurse zu Dekarbonisierung und extraktivistischen Entwicklungsmodellen mit neuen Zugängen. Eine tatsächlich nachhaltige Transformation sei mit postfossilem Extraktivismus nicht zu erreichen, schließt Tittor: Vielmehr sei für globale Umweltgerechtigkeit eine Unterbrechung der immer weiter erfolgenden Inwertsetzung von Ressourcen bei gleichzeitiger Externalisierung der sozialen und ökologischen Kosten notwendig. Letztlich bedeute dies vor allem eine Selbstbeschränkung des Ressourcenverbrauchs im Globalen Norden – eine unpopuläre Position, ist der Autorin bewusst.