Die Stimmen des Yucumã

- Buch
- Kretzmann Morgana
- Insel, 2025. - 261 Seiten
„Im trüben Wasser erkennt man die Substanzen nicht“, stellt Morgana Kretzmann ihrem Roman ein Schlüsselzitat aus Andréa del Fuegos „Geschwister des Wassers“ voran. Eben „Água turva“ („Trübes Wasser“) heißt der vorliegende Roman original im brasilianischen Portugiesisch und benennt damit ohne Umwege einen Fluss als Hauptschlagader seiner Handlung: Der Río Uruguay trennt den südbrasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul von Argentinien, an ihm liegen der älteste Nationalpark des Bundesstaats und mit dem Salto Yucumã auch der längste Längswasserfall der Welt. Beide sind in ihrer Existenz bedroht von umstrittenen Kraftwerksplänen, die von kleptokratischen Regierungspolitikern in Allianz mit lokalen Eliten verfolgt werden. So schnell das politische Substrat deutlich wird, so diffuser sind die Beziehungen zwischen den Figuren: Drei junge Frauen schultern den Roman, sie verbindet ihr biografisches Gepäck aus generationellen Traumata, Familienfehden und kollidierenden Lebensentwürfen: „Uns trennt nicht nur ein Fluss, Chaya, uns trennt die Realität.“
Die Schriftstellerin Morgana Kretzmann ist am Río Uruguay aufgewachsen, hat Umweltmanagement studiert und als Drehbuchautorin gearbeitet, von diesen Erfahrungen profitiert „Die Stimmen des Yucumã“ unmittelbar: Auf 260 Seiten reihen sich schnelle Szenenwechsel, plastische Landschaftsbeschreibungen und markante Dialoge aneinander, Rückblenden führen in komplexe Familiengeschichten ein und laden die Gegenwartshandlung mit mythischen Elementen auf. In rasantem Tempo verhandelt Kretzmann ökoterritoriale Konflikte, unerträglichen Machismo, weiblichen Widerstand und indigene Kosmologien. Dabei erzählt sie die filmreife Handlung nicht linear, sondern changiert Perspektiven, spielt mit abrupten Schnitten und entwickelt eine Art „Hardboiled Ökothriller“. Die nervöse, gleichzeitig angriffslustige Poesie macht das brodelnde Unheil spürbar, der titelgebende Salto Yucumã wird zum Symbol einer Welt am Kipppunkt – nicht nur klimatisch.