Der Rabe, der mich liebte

- Buch
- Sākin, ʿAbd-al-ʿAzīz
- Klingenberg, 2024. - 133 Seiten
Ein sudanesisches Dorf, der „Dschungel“ von Calais, das steirische Graz. All diese Orte verbindet in „Der Rabe, der mich liebte“ der sogenannte „Ameisenweg“, eine fiktionalisierte Fluchtroute durch Europa, über welche die zwei miteinander aufgewachsenen Sudanesen Al-Nur und Ahmad 2018 nach Großbritannien gelangen wollen. Wie für viele tausend andere endet auch ihr Traum in der französischen Hafenstadt Calais, wo in einer informellen Siedlung geflohene Menschen campieren und nach Wegen über den Ärmelkanal suchen. Dort trennen sich die Wege von Al-Nur und Ahmad, der an der Universität Oxford Linguistik betreiben möchte und deshalb spaßeshalber den Spitznamen „Adam Ingliz“ erhält: „Ja, er war dickköpfig und ungestüm und klammerte sich an seinen Traum, nach Großbritannien überzusetzen und so Englisch zu sprechen, als sei er mitten in London geboren (…). Ich hatte damals die Wahl gehabt: entweder bei ihm zu bleiben, in diesem verfluchten Dschungel, und auf eine sichere Überfahrt zu warten oder mein Glück in einem anderen Land zu versuchen. Also verließ ich ihn. Danach brach unsere Beziehung ab. In Wahrheit war es seine Entscheidung gewesen, denn er meinte, ich sei zu pessimistisch, frustriert und kurzsichtig oder wie er sich ausdrückte: ein Nichtsnutz.“
Um das Schicksal dieses Adam Ingliz kreist der Roman in multiperspektivisch angelegten Vignetten, zu Wort kommen neben Al-Nur etwa ein Schlepper oder zwei Frauen, die aus verschiedenen kulturellen und sozialen Kontexten auf den ihnen nahestehenden Mann blicken. Die Stimmen der literarischen Collage spiegeln Zerrissenheit und Komplexität von Fluchtbiografien, sind mal wütend, mal resigniert, immer wieder voller Hoffnung. Sie teilen Erfahrungen von Verlust, Hoffnung und Liebe, berichten von der Feindseligkeit des europäischen Migrationsregimes, aber auch von transnationaler Solidarität und einfachen Gesten der Menschlichkeit. Mit liebevollem Witz begleitet Abdelaziz Baraka Sakin seine Figuren durch eine kompakte Erzählung, die durch fantastische Elemente an Bedeutungsebenen gewinnt und sich etwa E.A. Poes kanonischen Rabens als Projektionsfläche bedient. Selbst vor politischer Verfolgung aus dem Sudan geflüchtet, lebt Sakin mittlerweile in Frankreich und Österreich, in Graz entstand „Der Rabe, der mich liebte“ während eines Aufenthalts als Stadtschreiber. Indem er existenzielle Themen verdichtet und große Zusammenhänge im Kleinen verhandelt, gelingt dem Autor ein eindringlicher Roman, der globale Ungleichheiten und das Versprechen Europas literarisch hinterfragt – vielstimmig, berührend und von unmittelbar entwicklungspolitischer Relevanz.