Das letzte Viertel des Mondes

- Buch
- Chi Zijian
- Blessing, 2025. - 416 Seiten
Tagesanbruch im nordöstlichen China, etwa um das Jahr 2002. Eine 90-jährige Frau aus dem nomadischen Volk der Olguya-Ewenken beginnt ihr Leben zu erzählen, als der Rest ihrer Gemeinschaft gerade das Lager verlassen und den Gang in die Sesshaftigkeit angetreten hat: „Ich bin keine besonders gute Geschichtenerzählerin, aber nun, wo ich den Regen prasseln höre und in die züngelnden Flammen blicke, spüre ich das Bedürfnis, mich jemandem mitzuteilen. Tatjana ist fort, und mit ihr Shiban, Maksim und Ruscha; wem soll ich meine Geschichte erzählen? Antsaur hört so ungern jemandem zu, wie er selbst redet. Sollen also der Regen und das Feuer meiner Geschichte lauschen, denn ich weiß, dass diese beiden Erzfeinde ebenso Ohren haben, wie ein Mensch Ohren hat.“
Einen Tag – oder über 400 Seiten – lang wird sie von der naturverbundenen Lebensweise der indigenen Bevölkerung in der Grenzregion von China, Russland und der Mongolei berichten, deren Teil sie neun Jahrzehnte lang war und die sie allmählich gegenüber den Zwängen der Moderne kapitulieren sieht. Detailreich und ohne Verklärung erzählt sie von spirituellen Traditionen, Jagd und Rentierzucht als Lebensgrundlagen, dem entbehrungsreichen Lauf der Jahreszeiten, ambivalenten Beziehungen zur sesshaften Bevölkerung und der tiefen Verbundenheit zu den heimatlichen Wäldern und Bergen. Dabei bleibt die Gemeinschaft der Ewenken nicht vom 20. Jahrhundert mit seinen gewaltsamen Verwerfungen unberührt, so folgt Chi Zijian ihrer namenlosen Erzählerin von der japanischen Okkupation über Maos „Großen Sprung nach vorne“ und die Jahre der Hungerkatastrophe bis zu ersten handfesten Manifestationen der Klimakrise. In unaufgeregten und Oralität atmenden Worten wird die Erzählerin zur Chronistin ihres Volkes und einer verschwindenden Kultur.
Mit „Das letzte Viertel des Mondes“ (bereits 2005 im chinesischen Original erschienen und mehrfach ausgezeichnet) ist ein hochpoetisches Panorama, das sich mit Gewinn auch entwicklungspolitisch und ethnografisch – etwa in Bezug auf Mensch-Natur-Verhältnisse, animistische Kosmologien und Nachhaltigkeitsentwürfe – lesen lässt. Vor allem aber ist es große Literatur mit schlichten Mitteln: „Einen ganzen Tag lang habe ich meine Geschichte erzählt. Nun bin ich müde.“