Soziale Bewegung ; Regionalforschung ; Aktivismus ; Protestbewegung ; Gewalt ; Kommunikation ; Organisiertes Verbrechen ; Protest ; Drogenhandel ; Kriminalität <Bekämpfung> ; Mexiko
Die vorliegende Dissertation von Sebastian Scholl interessiert sich für das Verhältnis von Protestbewegungen zu Raum. Konkret wählt der Humangeograf hierfür die mexikanische „Movimiento por la Paz con Justicia y Dignidad“ („Bewegung für Frieden mit Gerechtigkeit und Würde“), die sich in Reaktion auf den gewaltsamen Drogenkrieg, Korruption und soziale Ungleichheiten ab 2011 formierte. Während sich Politikwissenschaften und Soziologie bereits seit geraumer Zeit mit sozialen Bewegungen auseinandersetzen, hätte die Geografie keine derartige Tradition vorzuweisen. Erst seit den 1990er-Jahren würde sich seine Disziplin eingehender mit dem Verhältnis von Raum und sozialen Bewegungen auseinandersetzen, so Scholl. Seine Forschungsfrage bezieht sich auf die Nutzung von Räumlichkeit durch soziale Bewegungen zur Strukturierung ihrer Aktivitäten. Wesentlich für Scholls Analysen sind seine Differenzierungen von aktiven und latenten Protestphasen sowie „harter“ und „weicher“ Räumlichkeit. Insbesondere latente, das heißt öffentlich nicht (prominent) sichtbare Protestphasen identifiziert er als bislang von der Forschung vernachlässigtes Terrain. Scholl adressiert dieses Forschungsdefizit und stellt etwa die Bedeutung raumbezogener Vorstellungen für die Strukturierung und Kommunikation heraus: „Über die Artikulation und Nutzung raumbezogener Vorstellungen zielen die Aktivist_innen darauf, der Protestumwelt spezifische alternative Raumbilder zur Verfügung zu stellen, die sich vom im Protest ausgemachten Ist-Zustand unterscheiden.“ Als Beispiel führt er hier etwa die Semantik einer „emergencia nacional“ aus, mit welcher es der Protestbewegung gelang, Morde, Entführungen oder andere Gewalttaten – in deutlichem Kontrast zum offiziellen Regierungsdiskurs – als Ereignisse eines nationalen Notstandes zu kodieren. Dieses Framing half der Bewegung darüber hinaus, ihren Protest auch in Phasen der Latenz legitimieren zu können. Scholl bedient sich in seiner Dissertation eines ethnografischen Zugangs, der interdisziplinäre Zugänge zu berücksichtigen trachtet und auf theoretischer Ebene vor allem an Luhmanns Systemtheorie anknüpft. Exemplarisch veranschaulicht dieser Band, was die Disziplin der Geografie und die Auseinandersetzung mit Räumlichkeit (über die Materialität hinaus) für das Verständnis sozialer Bewegungen leisten kann.