USA ; Außenpolitik ; Diplomatie ; Biografie
Publikationen zur neuen, durch multiple Krisenlagen und veränderte Kräfteverhältnisse geänderten Weltordnung (mitunter auch zur „Weltunordnung“ verballhornt) haben aktuell Hochkonjunktur. Neben anderen Dynamiken konzentrieren sich diese Veröffentlichungen vor allem auf die einstige Weltmacht USA sowie die Erosion der um sie herum errichteten weltpolitischen Architektur und der transatlantischen Achse. Auch George Packers Roman „Das Ende des amerikanischen Jahrhunderts“ reiht sich in diese Strömung ein, der US-amerikanische Journalist sticht jedoch mit einem ungewöhnlichen Zugang heraus: Der Spitzendiplomat Richard Holbrooke (1941-2010) dient ihm als Galionsfigur für die Erzählung einer Ära: „Das, was man das amerikanische Jahrhundert nennt, war in Wirklichkeit nur ein gutes halbes Jahrhundert, und das entspricht in etwa Holbrookes Lebensdaten. Es begann mit dem Zweiten Weltkrieg und der darauf folgenden, kraftvollen Erneuerung – die Vereinten Nationen, die NATO, die Politik der Eindämmung, die freie Welt -, es durchlief schwindelerregende Höhen und Tiefen, bis es vorgestern oder vorvorgestern zu Ende ging. (…) Ein Goldenes Zeitalter war es nicht, wir haben uns verrannt, und eine Menge ist schiefgegangen, doch ich trauere ihm jetzt schon nach. Wir hatten eine gute und eine schlechte Seite, und das eine ließ sich vom anderen nicht trennen. Aus dem Gefühl der Allmacht entstanden der Marshallplan und der Vietnamkrieg, der Friedensvertrag von Dayton und der endlose Afghanistankrieg.“
Enthalten sind in diesem Zitat bereits die drei zentralen Stationen bzw. Agenden der Karriere Holbrookes, entlang derer Packer vom Diplomaten und der Diplomatie zu berichten weiß. So begleitet der knapp 700 Seiten starke Band Holbrooke bei seinen Anfängen in Vietnam bei USAID sowie später bei der Botschaft in Saigon (heute: Ho-Chi-Minh-Stadt), schildert später seine Rolle als US-Sondergesandter für den Balkan und Verhandlungsführer für das Friedensabkommen von Dayton, mit dem der Bosnienkrieg beendet wurde. Auch Holbrookes letzte, eher glücklose Mission als US-Sonderbeauftragter für Pakistan und Afghanistan in der ersten Regierungsperiode Barack Obamas bis zum frühen Tod kontextualisiert Packer. Auf Grundlage des Nachlasses von Holbrooke sowie etwa 250 Hintergrundgesprächen mit Wegbegleiter_innen und Akteur_innen der Außenpolitik erzählt Packer von einer filmreifen Karriere im diplomatischen Dienst, von Charme, Geschick und Lebensfreude seines Protagonisten, aber auch von seinen vielen menschlichen Schwächen und politischen Fehleinschätzungen. Exemplarisch veranschaulicht der Band insofern die US-amerikanische Außenpolitik von fast fünf Jahrzehnten, erzählt von Idealismus, Arroganz und Hybris einer Weltmacht gleichermaßen. En passant verhandelt „Das Ende des amerikanischen Jahrhunderts“ dabei wiederholt das Verhältnis von Entwicklungs- und Außenpolitik, Dilemmata der humanitären Hilfe, Altruismus und Eigennützigkeit.