Erdöl ; Kulturwissenschaften
Im Zentrum dieses Atlas steht eine allgegenwärtige fossile Substanz: Erdöl. Dass Kartenwerke von Mineralölunternehmen wie der Shell Autoatlas die Verbreitung von Atlanten gefördert haben, mag man als Ironie des Zufalls lesen, oder aber als bedeutsamen Zusammenhang im Zeitalter des Anthropozäns: „Die Ausbreitung der petromodernen Kultur korreliert mit einer Steigerung der Atlasproduktion.“ Anders als solche Autoatlanten verfügt der von den beiden Kulturwissenschaftlern Alexander Klose und Benjamin Steininger vorgelegte „Atlas der Petromoderne“ jedoch keine kartografische Verzeichnung von Autobahnnetzen und Tankstellen, ohnehin beschränkt er sich nicht auf die räumliche Dimension. Was der ästhetisch gestaltete Band jedoch mit konventionellen Atlanten gemeinsam hat, ist sein Lektüreangebot: Es handelt sich hierbei um kein Buch, das man zwingend von vorne bis hinten einem linearen Erzählstrang folgend lesen muss, sondern um eines, das man selektiv durchstreifen kann. Dies entspricht auch dem von den Autoren formulierten Anspruch, universalistische, eurozentrische Welterzählungen des Globalen Nordens nicht fortzuschreiben, sondern Geschichte polylinear und -zentrisch zu erzählen. Solcherart erhoffen die beiden Autoren, auch vorkoloniale und indigene Gesellschaften, lokale Impulse und kulturelle Traditionen petromoderner „Mutterländer“ zu Wort kommen zu lassen. „Erdöl“ gerät insofern zu einer breiten Kulturgeschichte des „schwarzen Goldes“, in der eine allgegenwärtige Substanz aus unterschiedlichen historischen, (pop)kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Perspektiven ans Tageslicht gefördert wird. Stationen dieser Erzählung sind etwa gigantische Landschaften der Petrochemie (bspw. in Lousiana), verwaiste Offshore-Plattformen oder periphere Landstriche (vom Kaspischen Meer über das Weinviertel bis Patagonien). In assoziativer Narration setzten sich Klose und Steininger mit Dynamiken, Brüchen und Verwerfungen der Petromoderne auseinander, betreiben kulturwissenschaftliche Geschichtsforschung und erliegen der Faszination der Materialität des Rohstoffes: „Denn Erdöl ist mehr als die Summe seiner Moleküle: Es ist vor Jahrmillionen gespeichertes Sonnenlicht, konzentrierte Erdgeschichte, die die Moderne schmiert und sie in ihren Widersprüchlichkeiten am Laufen hält.“ Ihr Atlas ist insofern auch ein Plädoyer für eine offensive Erinnerung der Ölindustrie, ihrer Genealogie bzw. der vom Erdöl befeuerten Entwicklungen, von denen der Klimawandel sicherlich die prominenteste ist. Bei der gegenwärtigen Klimakrise handelt es sich freilich um keine neuartige, unvorhersehbare Umbruchsituation, zitiert „Erdöl“ einen Song Neil Youngs, der kurz nach der ersten Ölkrise 1973 veröffentlicht wurde und eine vampirische Haltung gegenüber den begrenzten Ressourcen der Erde zum Ausdruck bringt: „I'm a vampire, babe, suckin' blood from the earth / I'm a vampire, baby, suckin' blood from the earth / Well, I'm a vampire, babe, sell you twenty barrels worth.“